Der griechische Physiologus und die ägyptischen Wurzeln der frühchristlichen Naturdeutung

Kapitel im Buch

Der griechische Physiologus und die ägyptischen Wurzeln der frühchristlichen Naturdeutung, in: M. Sommer/S. Hallinger/B. Wyss (Hgg.), Transzendentales Ägypten. Jenseits, Himmel, Hölle und das Ende in antik-ägyptischen Diskursen. Studies in Cultural Contexts of the Bible (SCB), 271–292, Leiden: Brill 2024, https://doi.org/10.30965/9783657790760_014 (Open Access).

Abstract: Der Schmelztiegel des antiken Ägypten begünstigt die Entstehung spezifischer und charakteristischer Ideen über die Sphäre zwischen Tod und Jenseits: Vom ptolemäischen Ägypten bis zur Islamisierung in der Spätantike begegnen und durchdringen sich kulturelle Diskurse an den Schnittstellen zwischen ägyptischen, römisch-hellenistischen, jüdischen, christlichen und islamischen Denkwelten. Der Tagungsband untersucht transkulturelle Parallelen und Differenzen zwischen Vorstellungen über Diesseits, Jenseits und Transzendenz, die im antiken Ägypten entstanden und deren komplexe Rezeptionsgeschichte unser Denken bis in die Gegenwart hinein prägt. Die Beiträge nähern sich Wurzeln und Nachwirkung christlich-ägyptischer Traditionen aus Sicht der Ägyptologie, Alten Geschichte, Philologie, Philosophie, Theologie, Koptologie und Kunstgeschichte und veranschaulichen, wie historische Forschung zur Entstehung von Bildern und Ideen über Tod und Jenseits zum Verständnis moderner Lebenswelten beitragen.

Das ‹Evangelium der Natur› (KGS 27)

Der Physiologus als Quelle der abendländischen Symbolik und Theologie

KURZFASSUNG

Mittelalterliche Städte sind auch in der Schweiz voll von verschiedenen Tieren aus Farben, Stein und Glas, die sich in Kirchen und Häusern und an deren Fassaden verstecken. Während es sich bei einigen Tier- und Pflanzenmotiven nur um Verzierungen handelt, bringen andere eine alte religiöse Symbolik mit sich. Diese ist für den heutigen Menschen oft rätselhaft. Zum Teil lässt sie sich mit Hilfe der Bibel entschlüsseln, wie bei dem Lamm, das im Neuen Testament Jesus bezeichnet, oder bei der Taube, die den heiligen Geist symbolisiert (vgl. Johannesevangelium 1,29.32). Dies ist allerdings nicht immer der Fall. Denn was hat das Einhorn mit der Jungfrau Maria oder der Pelikan mit Christus zu tun? Die Suche nach der Antwort führt in diesem Fall durch das ganze christliche Mittelalter bis ins antike Ägypten, zu einer kleinen frühchristlichen Schrift mit dem Namen Physiologus(der Naturkundige). Dieses kleine Buch, das wohl um das Jahr 200 n.Chr. im ägyptischen Alexandrien verfasst wurde, enthält allegorische Deutungen von Tieren, Pflanzen und Steinen, wobei es nicht nur biblische, sondern auch pagane Motive aufgreift. Der so entstandene Physiologusist die Urquelle der christlichen theologia naturalis(natürlichen Theologie), denn mit ihm beginnend wird die ganze Schöpfung als ein Buch betrachtet, das Christus verkündigt, als ein Evangelium der Natur. Im Mittelalter wurde der Physiologus dann in Form der gut bekannten Bestiarien im ganz Europa verbreitet und hat nachhaltig die Heraldik, Kunst und Literatur geprägt.

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